Homo deus. Eine Geschichte von Morgen

Ein Buch von Yuval Noah Harari, besprochen von Udo Boessmann



Yuval Harari: Homo deus
Übersicht

Homo deus wirft seinen Schatten voraus

Homo deus. So bezeichnet der Historiker Yuval Harari den Übermenschen der Zukunft. Eine kleine Elite datenverarbeitungstechnisch optimierter, überaus intelligenter und kreativer Menschen werde in absehbarer Zeit der Masse gewöhnlicher Menschen an Wissen, Macht und Lebenserwartung haushoch überlegen sein.
Der Siegeszug des Homo deus wirft laut Harari schon heute seine Schatten voraus: „Normale Wähler spüren allmählich, dass ihnen der demokratische Mechanismus keine Macht mehr verschafft (…) Die Macht verschiebt sich weg von ihnen, aber sie können nicht sagen, wohin sie verschwunden ist.“ Viele Briten glauben, „die Macht sei an die EU übergegangen“, und stimmten für den Brexit. In den USA glauben die Wähler, „das ‚Establishment‘ habe alle Macht an sich gerissen“ und wählten „Anti-Establishment-Kandidaten“ wie Donald Trump.

Die Perspektive des Historikers

Wer auch immer gewählt wird, die traditionelle demokratische Politik“ verliert laut Harari zunehmend „die Kontrolle über die Ereignisse und kann uns keine sinnvollen Zukunftsvisionen mehr bieten“. Ebenso düster sieht Harari die Zukunftsaussichten für Humanismus und Liberalismus.
Harari zeichnet in seinem Buch die Entwicklungslinien der Menschheitsgeschichte nach, die in seinen Augen zu den großen politischen und ethischen Errungenschaften von heute geführt haben. Trotz seiner atheistischen Position bescheinigt er den theistischen Religionen, dass sie in Tausenden Jahren Geschichte wesentlich dazu beitrugen, große Zahlen von Menschen zur Kooperation zu motivieren und die staatliche Ordnung, die für das Zusammenwirken im großen Stil notwendig war, zu sichern. Ohne eine massenhafte Kooperation (wie zum Beispiel im alten Ägypten) wären wirtschaftlicher, kultureller und wissenschaftlicher Fortschritt nicht möglich gewesen.
Der Jahrtausende vorherrschende Glaube an Götter oder an einen einzigen Gott wurde Harari zufolge durch den Triumph der Wissenschaften abgelöst. „So brachte die wissenschaftliche Revolution die humanistischen Religionen hervor, in denen die Menschen an die Stelle von Göttern traten.“ Die Grundüberzeugung des Humanismus laute, „dass Homo sapiens über einen einzigartigen und heiligen Wesenskern verfügt, der Quell allen Sinns und aller Macht im Universum ist. Alles, was im Kosmos geschieht, muss entsprechend seiner Wirkung auf Homo sapiens als gut oder böse eingestuft werden.“

Das Unrecht an Tieren und Umwelt

Dass „die Bedürfnisse, Launen und Wünsche des Menschen“ zum Maßstab aller Dinge aufstiegen, brachte – so Harari – unsägliches Leid über Milliarden von Tieren. Schon in der Zeit, als die Menschen von Jägern und Sammlern zu Bauern wurden, seien viele Tiere entweder ausgerottet oder „von fühlenden Lebewesen, die Respekt verdienen, zu bloßem Eigentum, dass man brutal ausbeuten dürfte“, degradiert worden. Mithilfe der Wissenschaft unterwerfe heute die industrielle Landwirtschaft Nutztiere bei weitem „extremeren Bedingungen, als sie in traditionellen Agrargesellschaften herrschten“. Hätte man in früheren Zeiten „Tausende von Tieren in einem überfüllten Stall“ gezwängt, so wären sie wahrscheinlich an einer Epidemie gestorben.
Der vegan lebende Harari beschreibt detailliert, was Tieren heute massenweise angetan wird: Die „meisten Sauen in industriellen Landwirtschaftsbetrieben (…) werden von ihren menschlichen Herren in enge Kastenstände eingesperrt, die üblicherweise nur 2m x 60 cm messen. Der Boden besteht aus Beton und Gitterrosten und ermöglicht erst den trächtigen Sauen kaum, sich umzudrehen oder auf der Seite zu schlafen. Nach dreieinhalb Monaten unter derartigen Bedingungen werden die Sauen in etwas größere Kastenstände verlegt, wo sie ihre Ferkel zur Welt bringen und säugen. Während Ferkel unter natürlichen Bedingungen zwischen zehn und zwanzig Wochen gesäugt werden, werden sie in der industriellen Landwirtschaft nach zwei bis vier Wochen zwangsweise entwöhnt, von ihrer Mutter getrennt und zur Mästung und Schlachtung weggebracht. Die Mutter wird sofort wieder besamt und in den Kastenstand zurück verfrachtet, damit dieser Zyklus erneut beginnt. Eine Sau durchläuft diesen Zyklus zwischen fünf- und zehnmal, bevor sie selbst geschlachtet wird. (…) Sauen, die im Kastenständen eingesperrt sind, zeigen in der Regel Anzeichen akuter Frustration im Wechsel mit extremer Verzweiflung.“

Gier und Wachstumswahnsinn im Kapitalismus

Doch nicht nur die ausgebeuteten Tiere sind verzweifelt. Auch unter uns heutigen Menschen „gähnt der Abgrund des völligen Nichts. Auf praktischer Ebene besteht das moderne Leben aus einem ständigen Streben nach Macht in einem Universum ohne Sinn. (…) Die moderne Kultur ist stärker als jede frühere Kultur von existenzieller Angst geplagt.“ Harari spricht von einem Hamsterrad: „Hatten soziale und politische Systeme früher Jahrhundertelang bestanden, so zerstört heute jede Generation die alte Welt und errichtet an deren Stelle eine neue.“ Die Moderne halte „am Wachstum als obersten Wert fest, den wir alles opfern und für den wir jede Gefahr auf uns nehmen sollen. Die moderne Übereinkunft hat uns also beispiellose Macht versprochen und ihr Versprechen gehalten.“ Der Preis dafür sei der Verzicht auf Sinn gewesen.
Wie konnte es soweit kommen? „Jahrtausende lang waren Gesellschaften bestrebt, individuelle Wünsche zu zügeln und sie in irgendeiner Art von Gleichgewicht zu bringen.“ Doch „die Moderne stellt die Welt auf den Kopf.“ Sie verherrliche die Habgier. Weil Gier das Wachstum antreibe, sei sie aus Sicht der Moderne eine Kraft des Guten. Der Kapitalismus habe „ein gieriges und chaotisches System heilig gesprochen, das sprunghaft wächst, ohne dass irgendjemand versteht, was vor sich geht und wohin wir rennen.“
Trotz allem sei der Kapitalismus erstaunlich erfolgreich, „zumindest wenn man das Potential eines künftigen ökologischen Zusammenbruchs ignoriert und wenn man Erfolg an Produktion und Wachstum bemisst.“ Die Prophezeiungen „von Zusammenbruch und Gewalt sind nicht eingetreten, während sich die skandalösen Versprechen dauerhaften Wachstums und globaler Kooperation erfüllt haben. (…) Jahrtausendelang erklärten Priester, Rabbiner und Muftis, die Menschen könnten Hunger, Krankheit und Krieg nicht aus eigener Kraft überwinden. Dann kamen Banker, Investoren und Industrielle, und ihnen gelang innerhalb von zwei Jahrhunderten genau das.“

Ambivalenz hinsichtlich Humanismus und Liberalismus

Es wird die starke Ambivalenz deutlich, mit der Harari auf die Postmoderne, auf Humanismus, Liberalismus und technologischen Fortschritt schaut. Einerseits fühlt er sich als Nutznießer nie da gewesener bürgerlicher Freiheiten (er ist mit einem Mann verheiratet) und dramatischer neuer Möglichkeiten der Medizin und Technik, unsere Lebensqualität und Lebenserwartung zu verbessern. Im Jahr 2016 gebe „es keine ernsthafte Alternative zum liberalen Paket aus Individualismus, Menschenrechten, Demokratie und freiem Markt“. An manchen Stellen singt Harari geradezu ein Loblied auf den Humanismus, der in seinen Augen diesen Segnungen zugrunde liegt:
Dank der „neuen revolutionären Religion des Humanismus“ könnten „Moral, Schönheit und sogar Mitgefühl überleben und gedeihen in einer Welt ohne Götter, ohne Himmel und ohne Hölle“. Der Humanismus wende sich „gegen ein sinn- und gesetzloses Dasein“ und bete die Menschheit anstelle von Gott an. Die „inneren Erfahrungen der Menschen“ würden ihnen selbst und „einer sinnlosen Welt einen Sinn“ verleihen. Es gehe dem Humanismus nicht darum, „den Glauben an Gott zu verlieren, sondern den Glauben an die Menschheit zu gewinnen.“ Anders als vor der humanistischen Revolution galten die Menschen nicht mehr „als unwissende und verführbare Wesen“ mit launischen Meinungen und Gefühlen. Der Humanismus habe sogar „die moderne Gesellschaft vor dem Zusammenbruch gerettet“ und nicht etwa „das Gesetz von Angebot und Nachfrage“.
Andererseits schlägt Harari auch bittere Töne an: „Seit Jahrhunderten macht uns der Humanismus weis, dass wir die eigentliche Quelle allen Sinns sind und dass unser freier Wille deshalb die oberste Autorität darstellt. (…) Von klein auf sind wir einem wahren Trommelfeuer an humanistischen Schlagworten ausgesetzt, die uns den Rat geben: ‚Höre auf dich selbst, folge deinem Herzen, sei dir selbst gegenüber aufrichtig, vertraue dir selbst, tue das, was sich gut anfühlt.‘“ Diese Indoktrination habe unter anderem dazu beigetragen, dass humanistische Wissenschaftler unsere ungeheuerlichen Verbrechen an Umwelt und Tieren mit dem zynischen Hinweis auf die freien Entscheidungen der einzelnen Verbraucher für „optimierte“ Tierprodukte rechtfertigen.

Geschichten und ihr Sinn

Der humanistische Glaube an den freien Willen des Menschen ist für Harari eine Fiktion: „Soweit wir heute wissen, haben Determinismus und Zufälligkeit den gesamten Kuchen unter sich aufgeteilt und der ‚Freiheit‘ nicht einen Krümel übrig gelassen. Das heilige Wort ‚Freiheit‘ erweist sich, genauso wie die ‚Seele‘, als leerer Begriff, der keine erkennbare Bedeutung hat. Der freie Wille existiert nur in den imaginären Geschichten, die wir Menschen erfunden haben. (…) Ich entscheide mich nicht für meine Wünsche, ich spüre sie lediglich und handle entsprechend.“
Auch das „Ich“ sieht Harari als „eine erfundene Geschichte“ an, „genau wie Nation, Götter und Geld“. Jeder von uns verfüge „über ein ausgeklügeltes System, das die meisten unserer Erlebnisse wegwirft, nur ein paar ausgewählte Exemplare behält, diese mit Stückchen aus Filmen, die wir gesehen haben, Romanen, die wir gelesen haben, Reden, die die gehört haben, und unseren eigenen Tagträumen vermengt und aus all diesem Wirrwarr eine scheinbar kohärente Geschichte darüber strickt, wer ich bin, woher ich komme und wohin ich gehe. Diese Geschichte sagt mir, was ich lieben, essen und was ich mit mir selbst anfangen soll. Diese Geschichte kann sogar zur Folge haben, dass ich mein Leben hingebe“, wenn das Drehbuch es erfordert. Doch ob Tragödie, Komödie oder Actionfilm, es handle sich „immer nur um Geschichten“.
Gleichzeitig sieht Harari Geschichten für das menschliche Zusammenleben als lebenswichtig an: „So wie die Jäger und Bauern ihre Mythen hatten, so haben auch die Menschen in den Forschungsabteilungen ihre Mythen.“ Wir wollen glauben, dass menschliches Leben „auf grundsätzliche Weise höherwertig ist (…), dass wir über irgendeine magische Eigenschaft verfügen, die nicht nur für unsere ungeheure Macht verantwortlich ist, sondern auch unsere privilegierte Stellung moralisch rechtfertigt.
Laut einer Gallup-Umfrage aus dem Jahr 2012 glauben nur 15% der Amerikaner, dass Homo sapiens allein durch natürliche Auslese ohne jedes göttliche Mitwirken entstanden ist. 32% sind der Ansicht, die Menschen seien zwar über Jahrmillionen aus früheren Lebensformen entstanden, aber Gott habe diese gesamte Vorstellung dirigiert. Für 46% hat Gott die Menschen in ihrer heutigen Form irgendwann während der letzten 20.000 Jahre geschaffen.
Harari glaubt, dass die Menschen nur deshalb die Herrschaft über die Welt erringen konnten, „weil nur sie ein intersubjektives Sinngeflecht erzeugen können: ein Geflecht aus Gesetzen, Kräften, Wesenheiten und Orten, die nur in ihrer gemeinsamen Fantasie existieren“. Diese intersubjektive Wirklichkeit hänge „von der Kommunikation zwischen vielen Menschen“ ab. Mit Hilfe der Sprache erschaffe Homo sapiens völlig neue intersubjektive Phänomene wie Geld, Götter oder Imperien. Diese spielten in der Geschichte eine überragende Bedeutung, solange genügend Menschen an sie glauben.
„Sinn entsteht, wenn viele Menschen zusammen an einem gemeinsamen Geflecht von Geschichten weben. (…) Menschen bestärken in einer sich selbst erneuernden Schleife fortwährend die Überzeugung des jeweils anderen (…), bis man kaum mehr eine andere Wahl hat, als das zu glauben, was jeder glaubt. Doch über die Jahrzehnte und Jahrhunderte (…) wird ein neues Geflecht gesponnen.
Sich wie Harari mit Geschichte zu befassen heißt, „zu erkennen, dass das, was den Menschen in der eigenen Epoche als das Wichtigste im Leben erscheint, für ihre Nachfahren völlig bedeutungslos wird“. Historiker versuchen, „die Entwicklung intersubjektiver Phänomene wie Götter und Nation zu verstehen“ und glauben anders als die Biologen, dass sie „sich nicht auf Hormone und Neuronen reduzieren lassen. Historisch zu denken bedeutet, den Inhalten unserer erfundenen Geschichte reale Macht zuzuschreiben.“ Für Harari beruht „die Macht menschlicher Kooperationsnetzwerke auf einem heiklen Gleichgewicht zwischen Wahrheit und Fiktion“. Menschen seien „nur dann massenhaft zu mobilisieren, wenn erfundene Mythen im Spiel sind. Hält man sich also an nichts als die Wirklichkeit, ohne ihr irgendwelche Fiktion beizumischen, werden einem nur wenige folgen.“
Gerade auch Technologie hänge „von Religion ab, weil jede Erfindung viele potenzielle Anwendungen kennt und die Ingenieure irgendeinen Propheten brauchen, der die richtungsweisende Entscheidung trifft“. Andererseits bestimme „Technologie oft Ausmaß und Grenzen unserer religiösen Visionen (…). Neue Technologien töten alte Götter und gebären neue. (…) Deshalb werden die revolutionären Technologien des 21.Jahrhunderts vermutlich bislang unbekannte religiöse Bewegungen hervorbringen.“
Harari kann sich sogar vorstellen, dass bald „ideologische Fiktionen die DNA-Stränge neu schreiben; weil politische und ökonomische Interessen das Klima verändern; und weil die Geographie von Bergen und Flüssen dem Cyberspace weicht. Wenn menschliche Fiktionen in genetische und elektronische Codes übersetzt werden, wird die intersubjektive Realität die objektive Realität verschlingen und die Biologie wird mit der Geschichte verschmelzen. Im 21. Jahrhundert könnte die Fiktion zur wirkmächtigsten Kraft auf Erden werden, mächtiger noch als die natürliche Auslese.“
Harari schließt daraus: „Wenn wir die Zukunft verstehen wollen, wird es nicht ausreichen, Genome zu entschlüsseln und über Zahlen zu brüten. Wir müssen die Fiktionen entschlüsseln, die der Welt einen Sinn verleihen.“

Die Menschheit im Umbruch

Harari sieht die heutige Menschheit in einem Umbruch, der so schnell und tiefgreifend stattfindet wie nie zuvor. Die Dynamik für diese Veränderung geht für ihn von den Biowissenschaften aus, die meinen:
  • Organismen und Menschen sind keine Individuen, sondern „‘Dividuen‘, d.h., eine Ansammlung vieler verschiedener Algorithmen, denen es an einer einzigen inneren Stimme oder einem einzigen Selbst fehlt“.
  • Diese Algorithmen werden „von Genen oder Umwelteinflüssen“ bestimmt. Sie treffen ihre „Entscheidungen entweder deterministisch oder zufällig, niemals aber frei“.
  • Ein externer „Algorithmus, der sämtliche Systeme überwacht“, könnte besser über mich Bescheid wissen als ich selbst: „wer ich bin, wie ich mich fühle und was ich will.“ Ein solcher Algorithmus könnte „den Wähler, den Konsumenten und den Betrachter ersetzen“ und „immer recht haben, und Schönheit wird in den Berechnungen des Algorithmus liegen“.
Glaubt man den Biowissenschaften, so ist alles, was wir erleben, Ergebnis elektrischer Aktivitäten in unseren Gehirnen. Es gibt schon heute eine „Quantified Self“-Bewegung, die behauptet, „dass Ich bestehe aus nichts weiter als aus mathematischen Mustern“, die so komplex sind, als dass der menschliche Geist sie verstehen kann. Statt mit „Philosophie, Meditation oder Psychoanalyse“ sollte man, um „sich selbst zu erkennen“, (…)  systematisch biometrische Daten sammeln und diese von Algorithmen analysieren lassen“. Diese würden einem dann sagen, „wer Sie sind und was Sie tun sollten (…), Selbsterkenntnis durch Zahlen“.
Was Harari da beschreibt, hat eine lange Tradition. Harari erzählt von avantgardistischen Denkern, die schon in der Antike die Bedingungen für persönliches Glück ergründeten. Epikur entwickelte eine ganze Ethik dessen, was man tun und lassen sollte, um den Menschen den Pfad zum Glück zu weisen. Glücklich sei, wer angenehme Empfindungen habe und frei von unangenehmen Gefühlen sei. Ende des 18. Jahrhunderts sah der britische Philosoph Jeremy Bentham als das höchste Gut das „größte Glück der größten Zahl“ an. Staat, Markt und Wissenschaft müssten vorrangig das globale Glück steigern. Und Benthams Nachfolger, John Stuart Mill, erklärte, Glück sei nichts weiter als Freude und Freiheit von Schmerz.
Nun hat sich Homo sapiens im Zuge der Evolution leider nicht dahingehend entwickelt, dauerhafte Freude und Glück zu empfinden. Wenn wir das nicht akzeptieren wollen (und uns nicht wie zum Beispiel der Buddhismus von unseren Begierden, die das Leid angeblich erst schaffen, verabschieden wollen), werden wir – so Harari – „unseren Körper und Geist neu konzipieren müssen. Also arbeiten wir genau daran. Man kann darüber streiten, ob das gut oder schlecht ist, aber es hat den Anschein, als gehe es beim zweiten großen Projekt des 21.Jahrhunderts – für globales Glück zu sorgen (das erste ist der Kampf gegen Alter und Tod) – auch darum, Homo sapiens so umzumodeln, dass er ewige Freude empfinden kann.“
Für Harari reduzieren die Biowissenschaften heute Glück und Leid auf unterschiedlich ausbalancierte körperliche Empfindungen. Sie behaupten, wir würden nicht etwa auf Ereignisse in der äußeren Welt reagieren, sondern es sind allein die unangenehmen Empfindungen in unserem eigenen Körper, die uns unglücklich machen. Die biochemische Lösung bestehe darin, Produkte und Behandlungsmethoden zu entwickeln, die den Menschen einen endlosen Strom angenehmer Empfindungen und ewiger Freude verschaffen. Ein viel versprechender Weg scheine, Schnittstellen zwischen Gehirn und Computern, Nanorobotern oder künstlicher Intelligenz zu entwickeln.
Laut Harari beschließen heute schon Millionen von Menschen jeden Tag, „ihrem Smartphone wieder ein Stück mehr Kontrolle über ihr Leben zu gestatten, oder sie probieren ein neueres, noch wirksameres Antidepressivum.“ Harari sieht eine „wahre Flut äußerst nützlicher Apparate, Instrumente und Strukturen“ auf uns zu kommen, die unser Leben und unser Bewusstsein grundlegend verändern könnten, ohne dass wir es merken. „In ihrem Streben nach Gesundheit, Glück und Macht werden die Menschen ganz allmählich zuerst eines ihrer Merkmale, dann noch eins und noch eins verändern, bis sie schließlich keine Menschen mehr sind.“
Die neuen Technologien des 21.Jahrhunderts könnten „die humanistische Revolution rückgängig machen, indem sie die Menschen ihrer Macht berauben und stattdessen nichtmenschliche Algorithmen damit betrauen. (…) Die Algorithmen von Google und Facebook wissen genau, wie Sie sich fühlen, und darüber hinaus unzählige weitere Dinge, die Sie kaum für möglich halten.“ Doch „wenn die Algorithmen wissen, wie jede Person abstimmen wird, und wenn sie sogar die genauen neurologischen Gründe dafür kennen, warum der eine rechtsnational und der andere sein Kreuzchen bei einer linken Partei macht, warum soll man dann noch demokratische Wahlen abhalten?“
„Wenn wir nicht aufpassen, könnte (mit Hilfe von biometrischen Daten – vielleicht im Machtbereich von Putin) ein Orwell‘scher Polizeistaat erwachsen, der nicht nur alle unsere Handlungen fortwährend kontrolliert, sondern auch das, was sich in unserem Körper und unserem Kopf abspielt.“ Im 21. Jahrhundert steige die Wahrscheinlichkeit, „dass sich das Individuum still und leise von innen heraus auflöst und nicht von einem äußeren Big Brother brutal erschlagen wird“.

Das Ende von Humanismus und Liberalismus und die neue Elite

Unter der Überschrift „Optimierte Ungleichheit“ sieht Harari die vielleicht gravierendste soziale Ungerechtigkeit aller Zeiten voraus. Für ihn sind es vor allem die Biowissenschaften, die „den Liberalismus ins Wanken bringen mit ihrer Behauptung, dass das freie Individuum nur eine erfundene Geschichte ist, die von einer Ansammlung biochemischer Algorithmen ersonnen wurde“. Wenn das stimme, dann werde „das System Sie besser kennen als Sie sich selbst und deshalb die meisten wichtigen Entscheidungen für Sie treffen – und Sie werden damit vollkommen zufrieden sein“.
In diesem System werde es „eine kleine Elite optimierter Menschen“ geben, „Übermenschen mit unerhörten Fähigkeiten und beispielloser Kreativität“, die „viele der wichtigsten Entscheidung auf der Welt treffen. Sie werden zentrale Dienste für das System leisten, während das System sie nicht verstehen und lenken kann. Die meisten Menschen werden jedoch zu einer niederen Kaste gehören, die von den Computeralgorithmen ebenso beherrscht wird wie von den neuen Übermenschen.“ Damit wäre das liberale Prinzip am Ende, das immerhin grundsätzlich „allen Menschen gleichen Wert und gleiche Autorität“ zugestanden habe.
Die neue Elite würde ihre Macht und ihre Ressourcen vorwiegend in ihre Selbstoptimierung investieren bis hin zur Verwirklichung des Traums von Unsterblichkeit. Auch die Armen würden „im Jahr 2070 medizinisch vermutlich besser versorgt sein als heute, aber die Kluft, die diese von den Reichen trennt, wird trotzdem viel größer sein“. Die neue Kasten von Übermenschen könnte sogar „ihre liberalen Wurzeln kappen und normale Menschen nicht viel besser behandeln als die Europäer des 19. Jahrhunderts die Afrikaner.
Wenn wissenschaftliche Entdeckungen und technologische Entwicklungen die Menschheit in eine Masse nutzloser Menschen und eine kleine Elite optimierter Übermenschen aufspalten oder wenn die Macht vollständig von Menschen auf hoch intelligente Algorithmen übergeht, wird der Liberalismus zusammenbrechen. Harari fragt sich: „Welche neuen Religionen oder Ideologien könnten das so entstehende Vakuum füllen und die Evolution unserer gottgleichen Nachkommen steuern?“

Dataismus – eine neue Religion

Auch im 21. Jahrhundert werden Mythen weiterhin die Menschheit beherrschen, glaubt Harari. Die Wissenschaft verstärke diese Mythen nur noch. „Dank Computern und Biotechnologie wird sich der Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit auflösen, wenn die Menschen die Realität so ummodeln, dass sie ihren Lieblingsfiktionen entspricht.“ Es werde „immer schwieriger, aber auch immer wichtiger werden, Fiktion und Wirklichkeit sowie Religion und Wissenschaft auseinanderzuhalten“.
Als einen neuen und unaufhaltsamen Mythos sieht Harari die Auffassung, man könne „die gesamte menschliche Spezies als ein einziges Datenverarbeitungssystem betrachten, in dem die einzelnen Menschen als dessen Mikrochips fungieren“. Demzufolge wäre „die gesamte Geschichte als ein Prozess zu begreifen, welcher der Effizienzsteigerung dieses Systems dient“, und zwar mittels:

·         möglichst vieler Prozessoren
·         möglichst großer Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Prozessoren
·         möglichst vieler Verbindungen zwischen den Prozessoren und
·         möglichst freiem Informationsfluss.

Nach dieser Logik haben „Demokratie und freie Marktwirtschaft“ nicht „gesiegt, weil sie gut waren, sondern weil sie das globale Datenverarbeitungssystem verbesserten“. Der ganze Sinn bestehe in der „Schaffung eines neuen und noch effizienteren Datenverarbeitungssystems (…). Wenn das globale Datenverarbeitungssystem allwissend und allmächtig wird, wird die Verbindung mit dem System zum Quell allen Sinns.“ Als Teil des Datenflusses könne man sich als „Teil von etwas Größerem“ als man selbst fühlen.
„Die Datenreligion sagt heute, dass jedes meiner Worte und jede meiner Handlungen Teil des großen Datenflusses ist. Algorithmen haben mich ständig im Auge und kümmern sich um alles, was ich tue und empfinde. Die meisten Menschen sind darüber ausgesprochen glücklich. (…) Wer vom Datenfluss abgekoppelt ist, läuft sogar Gefahr, den Sinn des Lebens zu verlieren. Was hat es für einen Sinn, etwas zu tun oder zu erleben, wenn niemand davon weiß und es nicht in den globalen Informationsaustausch einfließt. (…) Dataisten glauben, dass wir keinen Sinn in uns selbst finden müssen, ja gar nicht finden können. Erst wenn wir unsere Erfahrungen mit dem großen Datenstrom verknüpfen, werden die Algorithmen ihren Sinn erkennen und uns sagen, was wir tun sollen.“
Doch die Sache hat einen entscheidenden Haken. Menschliche Algorithmen „sind nicht dafür gemacht, die Datenströme des 21.Jahrhunderts zu bewältigen“, selbst wenn wir sie optimieren. Der Dataismus bemisst den Wert menschlicher Erfahrung allein nach ihrer Funktion bei der Datenverarbeitung und könnte daher bald die Erfahrung von Ärzten, Anwälten, Dichtern, Musikern und jedem anderen für wertlos ansehen. Die vom Humanismus gepriesene „Ehrwürdigkeit menschlicher Erfahrung“ könnten Dataisten „als sentimentalen Humbug abtun“.
Die großen Algorithmen des Internets sind „das Geheimnis des Dataismus. (…) Das menschliche Gehirn könne die neuen Masteralgorithmen nicht begreifen. Im Moment werden die Algorithmen noch von Menschen geschrieben. Doch die wirklich wichtigen Algorithmen – wie der Suchalgorithmus von Google – werden von riesigen Teams entwickelt. Jeder Beteiligte versteht nur einen kleinen Teil des Puzzles (…). Mit dem Aufkommen des maschinellen Lernens und künstlicher neuronaler Netzwerke entwickeln sich immer mehr Algorithmen unabhängig, indem sie sich selbst verbessern und aus ihren eigenen Fehlern lernen (…), Muster zu erkennen und Strategien anzuwenden, die dem menschlichen Geist entgehen.“ Sie entwickeln sich dorthin, „wo noch nie ein Mensch zuvor war und wohin kein Mensch folgen kann“.
Harari hat Zweifel, ob sich das Leben wirklich auf Datenströme und das Treffen von Entscheidungen reduzieren lässt. Aber „unter dem Einfluss des Dataismus sind die Biowissenschaften ebenso wie die Gesellschaftswissenschaften geradezu besessen von Entscheidungsfindungsprozessen, so als gäbe es nichts anderes im Leben.“ Daher sei „eine kritische Überprüfung dataistischer Dogmen die größte wissenschaftliche, politische und ökonomische Herausforderung des 21.Jahrhunderts“. Doch „selbst wenn der Dataismus unrecht hat und Organismen nicht nur Algorithmen sind, wird das den Dataismus nicht zwangsläufig davon abhalten, die Welt zu übernehmen. Viele frühere Religionen erlangten trotz ihrer faktischen Fehler enorme Beliebtheit und Macht.“

Wie können Demokratie und Menschenrechte überleben?

Wir glaubten bislang an den Menschen als „einzigartiges und wertvolles Individuum“ als Quelle „freier Entscheidungen“ und „Autorität“. Harari sieht im 21. Jahrhundert Entwicklungen, die diesen Glauben „obsolet werden lassen“ könnten:
  • „Die Menschen werden ihren wirtschaftlichen und militärischen Nutzen verlieren, weshalb das ökonomische und das politische System ihnen nicht mehr viel Wert beimessen werden.“
  • „Das System wird die Menschen weiterhin als Kollektiv wertschätzen, nicht aber als einzigartige Individuen.“
  • „Das System wird nach wie vor einige einzigartige Individuen wertschätzen“, aber eben nur noch die Elite optimierter Übermenschen.
Für Harari drängen sich folgende Fragen auf:
  • „Was wird mit dem Arbeitsmarkt passieren, wenn künstliche Intelligenz einmal die Menschen bei den meisten kognitiven Aufgaben übertriff?“
  • „Welche politischen Auswirkungen wird eine massenhafte neue Klasse von wirtschaftlich nutzlosen Menschen haben?“
  • „Was wird mit den Beziehungen, den Familien und den Rentenkassen passieren, wenn Nanotechnologie und regenerative Medizin 80 zum neuen 50 machen?“
  • „Was passiert mit unserer Gesellschaft, wenn die Biotechnologie für Designerbabys und eine beispiellose Kluft zwischen reich und arm sorgt?“
  • „Was wird aus unserer Gesellschaft, unserer Politik und unserem Alltagsleben, wenn nichtbewusste, aber hoch intelligente Algorithmen uns besser kennen als wir uns selbst?“
  • Was wird bei der Machtübernahme des Dataismus mit uns Menschen passieren?
Hararis Antworten klingen nicht gerade ermutigend: „Die Menschen überlassen nicht zuletzt deshalb, weil sie mit der Datenflut nicht mehr zurechtkommen, die Macht dem freien Markt, der Weisheit der Crowd und externen Algorithmen.“ Denn im 21. Jahrhundert würden Macht und Zensur nicht mehr durch die Blockade von Informationsfluss ausgeübt, sondern durch „Überschwemmung mit irrelevanter Information“. Wenn der Dataismus die Macht übernehme, werde er anfangs „wahrscheinlich das menschliche Streben nach Gesundheit, Glück und Macht beschleunigen“. Doch sobald die Macht „auf die Algorithmen übergeht, könnten die humanistischen Projekte irrelevant werden“ und „Gesundheit und Glück der Menschen immer weiter an Bedeutung einbüßen.“
Harari veranschaulicht seine apokalyptische Vision mit einer Metapher: Zu Beginn des 21. Jahrhundert verlasse der vermutlich letzte „Zug des Fortschritts“ den Bahnhof namens Homo sapiens. „Wer diesen Zug verpasst, wird keine zweite Chance mehr bekommen.“ Für einen Sitzplatz „muss man die Technologie des 21.Jahrhunderts und ganz besonders die Wirkungskraft von Biotechnologie und Computeralgorithmen verstehen.“ Wer im Zug sitzt, „wird göttliche Fähigkeiten der Schöpfung und Zerstörung erlangen“, alle anderen sind „vom Aussterben bedroht“.

Spirituelle Suche als Ausweg?

Als Historiker hütet sich Harari, Zukunftsprognosen abzugeben. Durch die Beschäftigung mit der Geschichte will er lediglich „den Griff der Vergangenheit lockern“. Er will befähigen, Möglichkeiten zu erkennen, „die für unsere Vorfahren unvorstellbar waren“ und „anders zu denken und zu träumen. Die Beschäftigung mit der Geschichte wird uns nicht sagen, wie wir uns entscheiden sollen, aber sie wird uns zumindest mehr Optionen verschaffen. Bewegungen, welche die Welt zu verändern suchen, beginnen oft damit, dass sie die Geschichte umschreiben und die Menschen damit in die Lage versetzen, sich die Zukunft neu auszumalen.“
Doch die Zukunft, die sich auf der Grundlage von Hararis Analyse ausmalen lässt, ist bedrückend – zumindest für die, die etwas auf ihren freien Willen halten und selbstbestimmt leben wollen. Doch Harari deutet eine Möglichkeit an, sich der geheimnisvollen Übermacht hoch vernetzter künstlicher Intelligenz und ihren verheerenden Auswirkungen auf den menschlichen Geist zu entziehen: spirituelle Reisen. „Sie bringen Menschen üblicherweise auf geheimnisvollen Pfaden zu unbekannten Zielen, und am Beginn der Reise stehen Fragen wie: Wer bin ich? Was ist der Sinn des Lebens? Was ist gut?“ Spirituelle Sucher lassen sich nicht mit den „vorgefertigten Antworten“ abspeisen. Sie gehen entschlossen ihren „großen Fragen“ nach, auch wenn diese sie an Orte führen, „die man nicht kennt oder eigentlich lieber nicht besuchen möchte“.
Spiritualität ist für Harari etwas ganz anderes als Religion. Religionen wollen „die weltliche Ordnung zementieren“, während die Spiritualität ihr zu entkommen sucht“. Ihre „kompromisslose Suche nach der Wahrheit“ könne nur „selten innerhalb der Grenzen des religiösen oder des wissenschaftlichen Establishments erfolgen“. Denn diese beiden „Kollektivinstitutionen“ würden etwas „über die Wahrheit“ stellen: die Wissenschaft die Macht und die Religion die Ordnung. „Deshalb passen sie auch so gut zusammen.“
Wie die spirituelle Reise in der Praxis konkret aussieht, verrät Harari nicht. Immerhin ist im Buch von einer „beinahe spirituellen Erfahrung“ die Rede. Gemacht hat diese eine Journalisten von der Zeitschrift „New Scientist“. Sie hatte einen Helm zur transkraniellen Gleichstromstimulation (tDCS) ausprobiert. Damit lässt sich über elektromagnetische Felder die Aktivität in bestimmten Gehirnbereichen stimulieren oder hemmen. Das amerikanische Militär experimentiert mit solchen Helmen, um die Konzentration und Leistungsfähigkeit von Soldaten, die über längere Zeiträume hoch konzentriert bleiben müssen, zu steigern.
Die Journalistin berichtete begeistert, zum ersten Mal in ihrem Leben hätte „alles in ihrem Kopf endlich die Klappe gehalten. Mein Gehirn ohne Selbstzweifel, das war eine Offenbarung. Da war plötzlich diese unglaubliche Stille in meinem Kopf. In den Wochen nach meinem Erlebnis wollte ich eigentlich nur eines, nämlich wieder zurück und wieder diese Elektroden am Kopf spüren.“

Einige Ergänzungen und Fazit

Trotz seiner pessimistischen Perspektiven habe ich das Buch von Harari mit Genuss gelesen. Das liegt an der Fülle aufregender Information und an dem ausgesprochen gut lesbaren und spannenden Stil. Harari ist ein Meister darin, komplizierte Phänomene und Sachverhalte einfach und anschaulich darzustellen.
Wenn man Harari folgt, sieht die Zukunft für die meisten Bürger der postmodernen Wohlstandsgesellschaften nicht gut aus. Schon heute fühlen sich breite Bevölkerungsschichten, die sich früher zum Mittelstand zählen konnten, ökonomisch und sozial abgehängt. Von ihrer Angst, Wut und Verbitterung profitieren überall populistische Parteien mit zweifelhaftem Demokratie- und Menschenrechtsverständnis. Aber auch viele von denen, den es wirtschaftlich noch gut geht, leiden unter dem Leistungs-, Erfolgs- und Konkurrenzdruck in der Arbeitswelt. Ein alarmierender Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse stellte seit 2007, in einem Zeitraum von nur zehn Jahren, eine Verdoppelung der Verordnung von Antidepressiva fest.
Nach meiner Erfahrung als Arzt und Psychotherapeut spielen für depressive und andere seelische Leidenszu­stände (Angst, stressbedingte Erschöpfung und psychosomatische Störungen) neben der allgemeinen Überforderung durch die zunehmende Komplexität unserer Lebens- und Arbeitswelt die Vereinzelung der Menschen (nicht zuletzt auch durch exzessiven digitalen Medienkonsum) eine wichtige Rolle. Dazu kommen der Verlust gemeinsamer Sinn stiftender Werte, der Mangel an mitmenschlicher Solidarität, gegenseitiger Anteilnahme und Unterstützung sowie unzureichender familiärer und gesellschaftlicher Zusammenhalt. Alle diese Faktoren passen gut zu dem zynischen Menschenbild des „Dataismus“ und zu den beunruhigenden Entwicklungen, die Harari in seinem Buch darstellt.
Für Schwarzmalerei bin ich normalerweise nicht empfänglich. Aber Hararis Analyse nehme ich sehr ernst. Vor allem die noch nie da gewesene Macht durch Big Data und die Möglichkeiten, diese Macht massiv zu missbrauchen, machen mich ganz schwindelig. Die Auswirkungen der globalen Digitalisierung sind schon heute gewaltig. Hilflos muss ich zusehen, wie mein pubertierender Sohn in jeder freien Minute wie hypnotisiert auf den Bildschirm seines Smartphones starrt und sich lieber mit den Avataren seiner Videospiele als mit seinen wenigen Freunden beschäftigt. Aber auch ich selbst scheine von meinem Laptop und von meinem Tablet schon völlig abhängig zu sein, so gestresst wie ich bin, wenn diese Geräte und ihre Software mal nicht funktionieren.
In einigen wichtigen Punkten teile ich den Pessimismus und die Ansichten von Harari nicht. Hier einige Anmerkungen und Ergänzungen:

Menschliches Bewusstsein wird nicht von Datenströmen erzeugt

Harari schreibt, wir hätten „im Moment keinerlei Vorstellung, wie oder warum Datenströme Bewusstsein und subjektive Erfahrungen erzeugen könnten“. Doch die Frage, wie Datenströme Bewusstsein erzeugen, stellt sich gar nicht wirklich. Denn es ist ohnehin klar, dass Datenströme allein kein Bewusstsein hervorbringen. In meinem Buch „Bewusstsein – Unbewusstes“ (siehe: http://bewusstsein-unbewusstes.blogspot.com) habe ich mich aus ärztlicher und psychotherapeutischer Sicht mit dem Thema ausgiebig beschäftigt und kann mit Gewissheit sagen:
Bewusstsein wird definitiv nicht von Datenströmen in einzelnen Gehirnen erzeugt. Im Gegenteil: Die meisten „Datenströme“ in unseren Gehirnen bleiben unserem Bewusstsein vollkommen verborgen. Datenströme im Gehirn bestehen aus elektrischen und biochemischen Vorgängen in und zwischen Nervenzellen. Sie sind zwar die neurobiologische Voraussetzung dafür, dass wir Bewusstsein haben können. Aber Gehirnaktivität allein verursacht noch lange nicht das, was wir subjektiv als unser Bewusstsein erfahren.  
Menschliches Bewusstsein, das jeder Einzelne von uns als „mein Bewusstsein“ erlebt, ist keine rein individuelle Leistung und auch nicht etwas, was „mir gehört“, wenngleich wir es so erleben. Diese „Meinhaftigkeit“ des Bewusstseins ist eine soziokulturell nützliche Benutzerillusion. Klar ist, menschliches Bewusstsein ist auf menschliche Gehirne angewiesen, die Information verarbeiten. Aber Bewusstsein wird nicht von einzelnen Gehirnen und ihren Datenströmen generiert. Zum Vergleich: Die Fülle der weltweiten Information des Internets ist auf lokale Computer mit bestimmten Hardware-Voraussetzungen, Betriebssystemen und geeigneten Programmen angewiesen, um Inhalte, zum Beispiel einen Film auf Youtube, sichtbar zu machen. Aber der einzelne Computer ist natürlich nicht der Erzeuger der auf dem Bildschirm erscheinenden Bilder.
Menschliches Bewusstsein resultiert aus der Interaktion vieler Gehirne und innerhalb dieser Gehirne aus dem Zusammenwirken vieler Nervenzellennetze. Es ist damit ein kulturabhängiges, interpersonales Phänomen, obwohl es individuell erfahren wird. Das entspricht dem, was Harari „intersubjektive Wirklichkeit“ und „intersubjektives Sinngeflecht nennt. Bewusstsein hat – anders als Nervenzellen und ihre Aktivität – keinen bestimmbaren physikalischen Ort. Am ehesten lässt es sich in einem virtuellen Raum zwischen unseren Gehirnen vorstellen. Die Nichtlokalität von Bewusstsein ist natürlich erst einmal kontraintuitiv und ruft vielleicht spontanen Widerspruch hervor. Aber sie ist neurobiologisch, system-, informations- und quantentheoretisch schlüssig und hat weitreichende lebenspraktische Konsequenzen.
Alle Gehirne verarbeiten Information, aber menschliche Gehirne zeichnen sich im Vergleich zu tierischen Gehirnen dadurch aus, dass sie eine bestimmte Klasse von Informationen verarbeiten und speichern können. Ich habe sie „Bewusstseinsinformation“ genannt, weil sie geeignet ist, bewusstseinsfähige Gehirne zu verbinden und dadurch erst die besonderen Eigenschaften des menschlichen Bewusstseins hervorzubringen. Bewusstseinsinformation liegt in symbolischer Form vor; sie umfasst all das, was Kulturen an Zeichen, sprachlichen Produktionen und Bedeutungen (zum Beispiel Schriftzeichen, mathematische Zeichen, Landkarten, Noten, Konventionen, Sitten, Gesetze, Wissenschaften und Religionen) entdeckt, hervorgebracht und verarbeitet haben.
Weil Bewusstseinsinformation in symbolischer Form vorliegt, lässt sie sich so gut digitalisieren und mit Computern verarbeiten. Insofern bietet das Internet, das alle menschlichen und künstlichen Gehirne dieser Welt in Echtzeit miteinander verbindet und theoretisch nichts vergisst, die optimalen technischen Voraussetzungen für eine rasante Weiterentwicklung des Bewusstseins. Es wird nur vielleicht dann nicht mehr das menschliche Bewusstsein sein, das wir kennen.
Bewusstseinsinformation wird sozial angeliefert, wobei der Informationsfluss und Informationsaustausch sowohl horizontal (zwischen Mensch und Mensch, zwischen Individuum und Kollektiv oder von Kollektiv zu Kollektiv) als auch vertikal (geschichtlich, transgenerational von Menschen und Kollektiven in der Vergangenheit zu Menschen und Kollektiven in der Gegenwart und von uns Heutigen zu zukünftigen Generationen) erfolgt. Die Bedeutung der Bewusstseinsinformation erschließt sich überhaupt erst aus einem kollektiven und geschichtlichen Kontext heraus. Theoretisch verbindet Bewusstseinsinformation alle Einzelgehirne, die je gelebt haben, mit denen, die heute leben, und jenen, die zukünftig leben werden, zu einem riesigem sowohl parallel als auch seriell arbeitenden Informationsverarbeitungsnetzwerk.
Irgendwo inmitten dieses gigantischen Informationsverarbeitungssystems befindet sich – wie die Erde im Kosmos – unser im Gesamtmaßstab winziges und dennoch einzigartiges Gehirn, welches von der kollektiven Bewusstseinsinformation „durchströmt“ wird, diese empfangen und decodieren kann. Unser Gehirn kann aus dieser Bewusstseinsinformation auch neue Information generieren und in das kollektive Informationsverarbeitungsnetzwerk zurückgeben. Was jeder von uns als „mein Bewusstsein“ erlebt, ist die jeweils aktuelle Interpretation und Transformation der kollektiven Bewusstseinsinformation durch unser jeweiliges Individualgehirn. Dessen Funktionsweise wiederum hängt von der aktuellen Verfassung unseres Gesamtorganismus ab. Das ist der Punkt, der menschliches Bewusstsein grundsätzlich von künstlicher Intelligenz unterscheidet. 

Menschliche Gehirne sind keine Computer

Die Funktion unseres Gehirns kann nicht losgelöst vom restlichen Körper gesehen werden. Unser Gehirn ist über eine Vielzahl von Nervenverbindungen und auch über Botenstoffe (die zum Beispiel im Blut transportiert werden) mit dem übrigen Organismus verbunden, der wiederum in intensiver Wechselwirkung mit der Umgebung steht. Die Aktivität unseres Gehirns, die sich in unserem Erleben, Denken, Wollen und Handeln äußert, schwankt erheblich in Abhängigkeit von Umgebungsbedingungen und von der augenblicklichen Verfassung unseres Körpers, unter anderem von unserem Alter, von unserer zirkadianen Rhythmik (den üblichen Tagesschwankungen), von unserem Gesundheitszustand, der Nahrungsaufnahme, unserer körperlichen Tätigkeit, von der Wirkung von Suchtmitteln und Medikamenten, davon ob wir ausgeschlafen oder müde sind. Unsere Körperverfassung wiederum wird stark von emotionalen und lebensgeschichtlichen Faktoren beeinflusst.
Jedes einzelne unserer Gehirne hat durch die Wechselwirkung von genetischen, soziokulturellen und biografischen Faktoren eine einzigartige morphologische und funktionelle Ausformung erhalten und kann seine innere Struktur lebenslang weiter verändern. Wir können unsere „Festplatte“ nicht einfach neu formatieren und sie nicht wie bei einem Computer in den jungfräulichen Urzustand zurückführen. Menschliche Gehirne sind von der Evolution mit Überraschungswerten ausgestattet. Das heißt: Das Verhalten von Menschen ist auf längere Sicht nicht voraussagbar, auch dann nicht, wenn ein Individuum in ein komplexes symbolbasiertes soziokulturelles System eingebunden ist.
Die heute gebräuchlichen Computer sind hingegen deterministische Gebilde; ihr Verhalten ist prinzipiell aus ihren physikalischen und technischen Eigenschaften sowie dem Input, den sie von außen erhalten, vollständig erklärbar und voraussagbar (das könnte sich allerdings ändern, wenn sich „Quantencomputer“ die nichtdeterministischen Eigenschaften von Quantenzuständen zunutze machen). Anders als bei Computern werden die meisten unserer Erfahrungen von unserem Nervensystem ohne Bewusstseinsbeteiligung verarbeitet. Es handelt sich um reine Sinnesempfindungen in einer analogen, also gerade nicht symbolischen Form.
Die analoge Funktionsweise können wir uns wie eine auf lange Belichtungszeit eingestellte astronomische Kamera vorstellen, die nur passiv empfangen kann. Im analogen Modus entstehen bloße Abdrücke im Nervensystem. Dagegen erzeugt der symbolbasierte Modus offensiv und aktiv ein scharf konturiertes, abstraktes Universum, das wir weitgehend selbst erschaffen. Über analoge Abbildungen oder Abdrücke im Nervensystem scheint es Tieren und Mitgliedern von Naturvölkern möglich zu sein, die Außenwelt mehr ganzheitlich und intuitiv statt analytisch zu erfassen.

Der Mensch zwischen Natur und Kultur

Wir Menschen stehen zwischen zwei Welten. Zum einen erfolgt unser direktes Erleben analog, zum anderen operieren wir mit Symbolen, die uns die Kultur vermittelt. Symbolische Fertigkeiten sind in unserer biologischen Grundausstattung ebenso wenig vorhanden wie bei Tieren. Erst durch intensive kulturelle Programmierung gelingt es der Kultur meisterhaft, Kinder und deren angeborene biologische Antriebskräfte an kollektive Zwecke und Anforderungen anzupassen. Wir Menschen habe eine erstaunliche intrinsische Bereitschaft, uns selbst zu programmieren, uns selbst zu überprüfen und praktisch jeden in der Kultur existenten Algorithmus in unserem Gehirn zu installieren und zu automatisieren. In dieser Hinsicht kann dem „Dataismus“, wie ihn Harari beschreibt, zugestimmt werden. 
Doch auch schon vor dem Computerzeitalter hatte uns die Kultur in der Hand. Denn das Geflecht aus Gewohnheiten, Gebräuchen und Überzeugungen, das wir Kultur nennen, drängt schon lange früh in uns ein. Es prägt unser Fühlen, Denken und Wollen, solange wir leben. Wir sind seiner ungeheuren strukturierenden Kraft völlig ausgesetzt und haben darüber keinerlei Kontrolle. Auch unsere Identität ist weitgehend von kulturell vorgegebenen Vorstellungen beeinflusst. Sie formt und gestaltet unseren Geist wie ein Töpfer ein Stück Ton.
Der menschliche Geist ist ein Hybridprodukt aus Biologie und Kultur. Wir bleiben zwar als Einzelne unterscheidbar. Aber wir sind, bis in die Struktur unseres Bewusstseins hinein, Kollektivwesen und Teil eines kollektiven Prozesses. Hier zeigt sich wieder die schon angesprochene Benutzerillusion: Weil die kollektiv angelieferten Symbole einen derart starken Einfluss auf unser Erleben ausüben, erliegen wir der Täuschung, sie seien die Urquelle unseres Erlebens. Doch für sich genommen wohnt keinem Symbol per se irgendeine Bedeutung inne. Wenn es überhaupt eine Bedeutung gibt, so gründet sie am ehesten in der ganzheitlichen analogen Schicht unserer Tiernatur.

Seele, Selbst und Ich

Harari schreibt: „Der Humanismus geht davon aus, dass jeder Mensch über ein einziges authentisches inneres Ich verfügt, aber wenn ich darauf zu hören versuche, stoße ich dort nur auf Stille oder eine Kakophonie widerstreitender Stimmen.“ Und: „Sobald wir jedoch akzeptieren, dass es keine Seele gibt und dass Menschen keinen inneren Wesenskern namens ‚Selbst‘ oder ‚Ich‘ besitzen, kann man nicht mehr sinnvoll fragen: ‚Wie wählt das Ich seine Wünsche aus?‘ In Wirklichkeit gibt es nur einen Bewusstseinsstrom, und innerhalb dieses Stroms entstehen Wünsche und vergehen wieder, aber es gibt kein permanentes Ich, das die Wünsche besitzt (…).“
Diese Sichtweise deckt sich nicht mit meiner Erfahrung als Arzt und Psychotherapeut. Es stimmt zwar, dass es „das Selbst“ oder „das Ich“ nicht objektiv in dem Sinne gibt, dass sie sich unmittelbar beobachten oder messen lassen wie Verhalten, Erröten, Blutdruckschwankungen oder Hirnströme. Wir kämen im Alltag auch nicht auf die Idee zu sagen, „mein Ich“ oder „mein Selbst“ will, sagt oder tut dieses oder jenes. Vielmehr handelt es sich bei „dem Selbst“ und „dem Ich“ um psychologische Konstrukte. Es sind Modelle, die uns helfen sollen zu erklären, warum Menschen so unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale haben und warum sie sich unter gleichen Bedingungen so unterschiedlich reagieren.
Als Psychotherapeut möchte ich verstehen, warum bestimmte Lebensumstände und Anforderungen den einen Menschen aufregen oder krank machen, während sie die meisten anderen unberührt lassen. Und vor allem brauche ich eine Orientierungshilfe, wie ich leidenden Menschen am effektivsten helfen kann. Zu diesem Zweck mache ich mir bei jedem Patienten ein möglichst genaues Bild von seinem Selbst und von seinen Ich-Funktionen.
Vereinfacht ausgedrückt ist das Selbst die Qualität der Beziehung, die ein Mensch zu sich selbst hat: wie viel Aufmerksamkeit er sich selbst schenkt, wie klar und stabil sein Selbstbild ist, wie positiv er sich selbst sieht, welche Gefühle er für sich selbst empfindet und wie liebevoll und fürsorglich er mit sich selbst umgeht. Diese Dinge lassen sich in der Regel sehr genau erfragen und beobachten.
Genauso präzise kann ich die Ich-Funktionen eines Menschen untersuchen. Ich benötige ausreichend Zeit, um mit dem Menschen interagieren zu können, um ihn zu befragen, zu beobachten und zu erfühlen. Danach aber kann ich ziemlich genau sagen, wie gut zum Beispiel seine Selbstwahrnehmung und seine Fähigkeit, Bedürfnisse und Gefühle auszudrücken, sind. Wie gut seine Kontrolle über seine Impulse und Affekte ist. Wie gut er auch unter Belastung sein Selbstwertgefühl aufrechterhalten oder wieder herstellen kann. Ob er auch meine Signale wahrnehmen und richtig interpretieren kann. Wie gut er generell die Bedürfnisse und Befindlichkeiten anderer Menschen erfassen kann. Wie gut er Bindungen eingehen, schützen und erhalten kann. Ob er auch Beziehungen, die ihm schaden, wieder lösen kann.      
Wenn Harari bei der Suche nach seinem „authentischen innerem Ich“ nur auf „Stille oder eine Kakophonie widerstreitender Stimmen“ stößt, dann würde ich ihn – wäre er mein Patient – einladen, geduldig genau darauf zu hören und alles, was er hört und erlebt, mit mir zu teilen, wenn er das will. Das Ich (oder das Selbst, was in diesem Fall das Gleiche ist) erkennt sich oft erst im Du, wie Martin Buber mal sagte. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das Vorhandensein eines echten Gegenübers aus Fleisch und Blut, das für mich Zeit hat und mir mit voller Aufmerksamkeit und emotionaler Beteiligung zuhört, niemals durch eine künstliche Intelligenz ersetzt werden kann. 

Willensfreiheit und Verantwortung

Für Harari ist das Wort „Freiheit“ ein „leerer Begriff“ ohne „erkennbare Bedeutung“. Der freie Wille existiere „nur in den imaginären Geschichten“, die Menschen erfunden haben. Auch ich traue den Freiheitsversprechen unserer liberalen Kultur immer weniger über den Weg. Nach allem, was ich oben ausgeführt habe, ist klar: Wenn wir denken, denken wir nicht unsere eigenen Gedanken, sondern die Gedanken, die zu denken wir von unserem soziokulturellen Hintergrund beauftragt oder zumindest berechtigt sind. Wenn wir sagen (oder singen): „Die Gedanken sind frei“, dann stimmt das einfach nicht. Pointiert könnte man auch sagen: Wir denken nicht, sondern wir werden gedacht.
Das Gleiche lässt sich von unserem Wollen sagen: Wenn wir etwas wollen, wollen wir nicht unseren eigenen Willen, sondern den Willen, den zu wollen wir von unserem soziokulturellen Hintergrund beauftragt oder zumindest berechtigt sind. Wenn wir uns gegen eine solche Sichtweise sträuben, weil sie sich kontraintuitiv anfühlt, dann spricht unsere Aversion nicht etwa gegen diese Sichtweise, sondern belegt vielleicht nur, wie tief und erfolgreich unsere Kultur die Benutzerillusion des freien Denkens und Wollens in uns implantiert hat. Das Internet, der weitere absehbare Machtmissbrauch von Big Data und die rasante Entwicklung neuer Technologien, die unser Erleben und Bewusstsein manipulieren, verschärfen die Problematik dramatisch. 
Doch es gibt für mich auch Anzeichen echter Freiheit: Der deutlichste Ausdruck von Freiheit ist das Phänomen, dass wir innere Konflikte erleben können. Diese Konflikte bestehen oft zwischen 1. verinnerlichten sozialen Regeln, altruistischen Erwartungen und idealtypischen Anforderungen, die durch das Gewissen und das Ich-Ideal repräsentiert werden, und 2. jenen Antrieben und Bedürfnissen, die mit diesen Regeln, Anforderungen und Erwartungen nicht kompatibel sind. Das können zum Beispiel starke hedonistische, narzisstische, expansive oder aggressive Motivationen sein, wie ein ausgeprägtes sinnliches Begehren, ein Verlangen nach besonderer Bevorzugung, eine Gier nach Besitz oder ein Streben nach Kontrolle und Beherrschung anderer. Zu einem inneren Konflikt kann es auch in Situationen kommen, in denen die Beachtung von bestimmten Regeln und Werten zwangsläufig zur Verletzung anderer Regeln und Werte führt. Wir sprechen dann von einem Gewissenskonflikt.
Innere Konflikte können qualvoll sein. Sie erweitern aber, wenn sie bewusst sind, unseren Entscheidungs- und Handlungsspielraum. Anstelle blinden Pflichtgefühl statten sie uns mit Freiheitsgraden und – insbesondere wenn sie mit einem starken Selbst und Ich verbunden sind – mit Verantwortungsfähigkeit aus. Es gehört zur bedrückenden Tragik gerade der deutschen Geschichte, dass viel zu viele Mitläufer offensichtlich keine oder zu schwache innere Konflikte empfanden, wenn sie sich an den unfassbaren Verbrechen des Nationalismus beteiligten.
Gibt es also vielleicht doch irgendwo eine Sphäre, in der unser Geist autonom und unser Wille frei ist? Ist es die erwähnte urwüchsige analoge Schicht unseres Geistes, die sich aus den unmittelbaren Eindrücken unserer Erfahrungen speist und nicht mit Symbolen operiert? Sollten es ausgerechnet unsere oft geschmähte oder gar geleugnete Tiernatur sein, die unsere individuelle Autonomie und Freiheit retten könnte?

Spirituelle Praxis und gnädiger Tod

Hier schließt sich vielleicht der Kreis. Harari verweist auf „spirituelle Reisen“ als Ausweg aus unserem Dilemma zunehmender Fremdbestimmung. Er spricht von „geheimnisvollen Pfaden zu unbekannten Zielen“ und Orten, die man „eigentlich lieber nicht besuchen möchte“ und von der Notwendigkeit, „die Glaubensüberzeugungen und Konventionen der herrschenden Religionen in Frage zu stellen“. Ansonsten verrät er nicht, was „spirituelle Wanderer“ konkret tun oder lassen sollten.
Alle großen mystischen Traditionen sind sich darin einig, dass wir bei unserer Suche nach Wahrheit weder in unserem Intellekt noch in den Lehren von Religionen und Philosophien die ersehnten Antworten finden. Der mystische Weg zeichnet sich über die verschieden Traditionen hinweg durch eine Praxis der Stille und der Vereinfachung des Lebens aus. Es scheint ein Weg zu sein, der wegführt von der Überfrachtung mit Worten, Konzepten, Bildern und technischen Spielereien. Mystiker entziehen sich der Übermacht der symbolbasierten Kultur. Mit dieser einfachen Strategie wollen sie frei werden.
Eine solche Strategie ist nicht jedermanns Sache. Doch wer eine solche Strategie verfolgt, muss sich nicht vor den schädlichen Wirkungen des Internets, nicht vor dem Missbrauch von Datenmacht und nicht vor der Manipulation seines Bewusstseins durch neue Technologien fürchten. Nach meiner Erfahrung sehnen sich heute wieder viele Menschen, junge wie alte, nach einem einfachen und ökologisch verantwortlichen Leben auf dem Land. Viele suchen Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, die kein Bedarf an einem Sitzplatz in Hararis „Zug des Fortschritts“ und an Selbstoptimierung durch Biotechnologie und Computeralgorithmen haben. Sie wollen nicht zu einer Elite von Übermenschen gehören, die von Angst dominiert sind. Für sie ist der Homo deus, der sich um einen gnädigen Tod betrügt, nicht erstrebenswert.

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